Test

Musikhistorisch-didaktische Edition der
Sechs Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach
für den klassisch-modernen Cellounterricht

von Jörg Zwicker

In praktisch jedem Prüfungsprogramm für Cellistinnen und Cellisten an den europäischen Ausbildungsstätten finden wir die Suiten von Johann Sebastian Bach. Ich sitze sehr oft in der Jury von Diplomprüfungen, Berufungsverfahren oder Wettbewerben und stelle mir immer wieder dieselbe Frage: „…warum ist Bach Pflichtprogramm, wenn diese Literatur stilistisch und technisch gleich gespielt wird, wie kurz danach eine Brahms-Sonate oder das Schumann-Konzert? …“

Da ich beides – „modernes“ und „barockes“ Violoncello – studiert habe und auch beide Instrumente an zwei Kunstuniversitäten unterrichte, bin ich mit dieser Thematik sehr eng verbunden. Immer wieder kommen „moderne Cellisten“ zu mir, um etwas über historische Spieltechniken zu erfahren. Seit 1995 (Beginn meiner Unterrichtstätigkeit) wiederholen sich alljährlich die nahezu identen Fragen und Problemstellungen.
Dies war der Anlass für dieses Projekt: eine Edition für den klassisch-modernen Cellounterricht, basierend auf historischen Quellen und unter Berücksichtigung der Erfahrungen auf beiden Instrumenten sowie der historisch informierten Aufführungspraxis, zu erstellen.

Wenn man sich mit einer stilgerechten (oder zumindest stilangenäherten) Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts auseinandersetzen möchte, bedarf es zunächst eines umfangreichen Hintergrundwissens über die Rhetorik, die Architektur und den Tanzstil des 18. Jahrhunderts.
Mithilfe einer geeigneten Noteneinrichtung soll es in weiterer Folge ermöglicht werden, diese Werke entsprechend auf dem heutigen Instrument cellistisch-technisch und stilistisch adäquat zu realisieren.

Trotz meines künstlerischen Schwerpunkts als Barockcellist vertrete ich die Ansicht, dass es nicht unbedingt eines barocken Instruments, Darmsaiten oder eines barocken Bogens bedarf, um diese Literatur „anders“ zu spielen, als Werke späterer Epochen. Dieses Kompendium soll helfen, durch Hintergrundinformationen und eine entsprechend aufbereitete Edition einen neuen Zugang zu diesen fantastischen Werken für das Violoncello zu bekommen.

Die „Quellenkritische Ausgabe für die Praxis“ im Bärenreiter Verlag ist eine gute Hilfestellung für die Gegenüberstellung der einzelnen Quellen hinsichtlich unterschiedlicher Töne, Akkorde und dergleichen. Im einleitenden Vorwort dieser Ausgabe steht geschrieben:

„… Da die Artikulationsangaben in den handschriftlichen Quellen weder eindeutig lesbar noch konsequent gesetzt sind, verzichtet der Notentext gänzlich auf Angaben von Artikulationsbögen …“

Genau hier setzt meine Edition, die sich vor allem an „moderne“ Cellistinnen und Cellisten richtet, an. Es ist richtig, dass manche Artikulationseintragungen in den handschriftlichen Quellen schwer lesbar oder zuordenbar sind. Auf die ersten Deutungsschwierigkeiten trifft man bereits in den ersten Takten des Prelude der Suite I, BWV 1007. Hinzu kommt, dass die handschriftlichen Quellen des 18. Jahrhunderts und ersten Drucke bereits stark voneinander abweichen:

Abb. 1: Beginn Suite I, BWV 1007

Wenn man sich einmal die Mühe gemacht hat, sämtliche Suiten aus den Quellen zu lesen und zu spielen und sich mit dem Gusto der Alten Musik befasst hat, dann bekommt man einen praktischen Eindruck, wie der Großteil der offenen Fragen stilistisch korrekt gelöst werden kann. Bei allen wissenschaftlichen und puristischen Zugängen der HIP (historisch informierten Aufführungspraxis) darf man meiner Meinung nach auch Eines nicht vergessen: die Musiker im 18. Jahrhundert waren ebenfalls Praktiker und haben sicherlich auch ihre persönlichen Versionen gespielt. Mein Lehrer Nikolaus Harnoncourt meinte vor vielen Jahren „… wir wissen nicht, wie sie es gemacht haben, wir wissen nur, wie sie es nicht gemacht haben …“.
Es gilt, eine cellistisch realisierbare Fassung zu finden, welche der Rhetorik, der Sprachartikulation des deutschen Hochbarock und den Grundsätzen des Historischen Tanzes entspricht, ohne einen Anspruch auf „die einzige Wahrheit“ zu erheben.

Das moderne Violoncello mit seinen Stahlsaiten und v.a. der Bau des modernen Cellobogens in seiner Ausbalancierung unterscheiden sich sehr vom barocken Instrumentarium. Dadurch ergibt sich schon von (physikalischer) Natur her eine andere Artikulation, als diese z.B. im Hochbarock üblich war. Jede Epoche hatte ihren eigenen Kompositionsstil mit dem dazu passenden Instrumentarium und einer entsprechenden Spieltechnik.
Vor vielen Jahren fuhr ich zur Probe der Beethoven-Sonaten für Violoncello und Hammerklavier. Als ich den Cellokoffer öffnete, musste ich feststellen, dass ich versehentlich den hochbarocken Bogen eingepackt hatte und der klassische Bogen in einem anderen Etui geblieben war. Also versuchte ich die Probe mit dem Barockbogen zu spielen – es funktionierte einfach nicht. Ich konnte die von Beethoven gewünschte Artikulationen und Phrasierungen mit der Balance des Barockbogens einfach nicht umsetzen. Ständig „ging mir der Bogen aus“, weil der Barockbogen viel zu leicht war und daher zu schnell durchgezogen werden musste. Das war eine unglaublich wertvolle Erfahrung für mich und veränderte meinen Zugang bei der Erarbeitung von Musik jeglicher Epoche völlig.
Von da an versuchte ich nie wieder meine eingelernte Spieltechnik dem Instrument „aufzuzwingen“, sondern war stets bestrebt zu erfühlen, was ein stilistisch adäquater Bogen beim Musizieren der Literatur „seiner“ Epoche macht: wie liegt er auf der Saite, wann und wie springt er weg, was kommt vom Bogen selbst, was muss ich dazutun, dass eventuell eingetragene Artikulationen entstehen, usw. Diese Geschichte lehrte mich, dass wir unglaublich viele Informationen über die stilgerechte Spielweise der Literatur vergangener Epochen vom Instrument selbst bekommen können.
(So bringt zum Beispiel auch die Verwendung des sogenannten „Untergriffs“ für die ersten Ricercare des 16./17. Jahrhunderts spannende Rückschlüsse auf die Artikulationsweise sowie die Klang- und Musizierästhetik dieser Zeit.)

In der klassisch-modernen Musikausübung spielen wir Musik aus rund vier Jahrhunderten mit derselben Technik, demselben Instrument und demselben Bogen. Da scheint es nur einleuchtend, dass dies auf interpretatorische Probleme stößt (Videoclip 1).

Abb. 2 bis 4: Vergleich eines Barockbogens und eines modernen Bogens:
konvexe vs. konkave Stangenbiegung; leichte vs. schwere Bogenspitze

Auf der Basis des Tanzes, der Architektur und der Rhetorik soll meine Deutung und Adaptierung der Handschrift Anna Magdalena Bachs eine für moderne Cellisten praktikable Version darstellen.

Meine Einrichtung folgte nicht vollständig dem, was ich aus der Quelle Anna Magdalena Bachs herauslese oder wie ich persönlich die Stücke mit dem Barockcello (und Barockbogen) interpretiere. Es gibt Stellen, an welchen ich abweichende Striche in diesem pädagogischen Kontext sinnvoller erachtete, um den „modernen Cellisten“, der sich erstmals einer historisch informierten Spieltechnik annähert, zu unterstützen. Die Verwendung eines modernen Cellobogens (mit schwerer Spitze) anstatt eines leichten Barockbogens mit leichter Spitze wurde in diesen Überlegungen mit einbezogen. Angefügte Videosequenzen erklären diese Spielpraxis und den technischen Zugang.

Ich habe bewusst davon Abstand genommen, sich auf den ersten Blick ähnelnde Stellen strichmäßig unbedacht anzugleichen. Vielfach wurden in diversen Editionen derartige Abweichungen als „Schreibfehler“ abgetan und angeglichen. Zweifelsohne gibt es auch solche Passagen. In den meisten Fällen konnte ich ein für mich schlüssiges (musikalisches) System dahinter erkennen (Variation, Verstärkung, Beschleunigung, Verlangsamung, …), weshalb ich solche Abweichungen in meiner Edition oft beibehalten habe. Auch Sprache artikuliert, je nach Aussage und Kontext, dieselben Worte bei Wiederholung unterschiedlich.

In meiner Einrichtung habe ich darauf geachtet, dass sämtliche hinzugefügte oder für die Ausführung mit dem schwereren Cellobogen von mir veränderten Striche dem Stil des deutschen Hochbarocks entsprechen bzw. auch an anderen Stellen der Suiten vorkommen.

Barocke Architektur

Den meisten von uns ist das „Bild“ eines barocken Gebäudes vertraut. Blicken wir etwas genauer hin, erkennen wir neben der Symmetrie vor allem den Wechsel zwischen starken, tragenden Säulen und reichlichen, aber kleinen, Ornamenten.
Auch in der Musik dieser Zeit begegnet uns diese Architektur. Diese Merkmale in den Sätzen zu erkennen ist eine weitere Grundvoraussetzung zu einer stilistisch fundierten Interpretation.

Abb. 5: Ornamente an barocker Orgel in Ochsenhausen
Abb. 6: Ornamente an der Frauenkirche Dresden

Abb. 7: Ornament des Hochbarock
Abb. 8: Säulen und Ornament in Bachs Violinsonate BWV 1003. Bereits der Bindebogen ist als Ornament ausgeführt.
Eine Verbindung der Noten lässt dasselbe Muster erkennen.

Die Bachschen Werke werden nicht zuletzt deshalb so oft zum Vorspiel ausgewählt, um „Klangqualität und großen Ton“ in einem Solowerk unter Beweis zu stellen. Dadurch ist der fleißige Cellist dazu geneigt, jede einzelne Note mit dem gewünschten („satten“) Ton und meist mit intensivem Vibrato auszudeuten. Die kleine differenzierte Ornamentik wird dem Solospiel „geopfert“, wodurch Säulen und Ornament (und somit die Merkmale des barocken Stils) verschwimmen.
Dies hat auch mit dem veränderten Instrumentarium (v.a. dem Bogenbau) und dem sich ändernden Musikgeschmack zu tun. Im Laufe der Zeit trat die klein-differenzierte Ornamentik immer mehr in den Hintergrund, größere Flächen und Klangmalerei lösten die Rhetorik und das tänzerische Element in der Musik zunehmend ab.
Bis dahin übliche Temperierungssysteme mit ihrer typischen Tonartencharakteristik wurden durch die Gleichschwebende Temperierung abgelöst, in welcher es keine Spannungsunterschiede mehr in den einzelnen Tonarten gab. (Ein Stimmsystem, bei welchem kein einziges Intervall rein ist {aufgrund des auf 12 Halbtöne aufgeteilten pythagoräischen Kommas}, gilt heute als Referenz für „saubere“ Intonation.)
Instrumente mit „guten“ und „schlechten“ Tönen, wie z.B. die Traversflöte, wurden durch mechanische Entwicklungen zu Instrumenten mit lauter Tönen „gleicher Qualität“. Der moderne Streicherbogen mit der konkaven Bogenstange und schweren Spitze ermöglichte nun, Auf- und Abstrich gleich zu spielen und Töne länger auszuhalten. In den Geigen- und Cellostunden lernen wir von Anbeginn darauf zu achten, dass der Bogenwechsel nach einem konstanten Ton geräuschlos und ohne Qualitätsverlust abläuft.
All diese Entwicklungen vom „Differenzierendem“ zu „Gleichem“ waren in meinen Augen keine Entwicklung von schlecht zu gut. Vielmehr gingen sie einher mit der Veränderung des Geschmackes und des Stils in Architektur und Musik. Man gewann Neues auf Kosten von anderem.
Der Mensch ist sehr visuell geprägt. Ob wir wollen oder nicht, das, was wir sehen, hat Einfluss auf unsere Musizierweise. Das sterile Bild eines modernen Notenschreibprogramms, bei welchem sich Notenköpfe, Balken, Abstände, etc. mathematisch genau gleichen, hat eine Wirkung auf unser Unterbewusstsein und lässt uns vielfach genauso musizieren – jede Note in der gleichen Form, gleichen Gewichtung. Das Spielen aus „analogen“ Handschriften kann helfen dem entgegenzuwirken.

Wie schon eingangs erwähnt spielen wir heute auf demselben Instrument mit derselben Spieltechnik Musik aus unterschiedlichen Epochen. Es liegt auf der Hand, dass es dadurch zu interpretatorischen Fragestellungen kommt.

Die Sarabande aus der 1. Suite eignet sich sehr, um dies zu demonstrieren (Videoclip 4).
Man spielt in beiden Fällen Tonfolgen von Bach, aber man spielt nicht in beiden Fällen eine Interpretation im „barocken Stil“!

Abb. 9: Sarabande aus Suite I, BWV 1007
Manuscript in Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv

Abb. 10: Sarabande aus Suite I, BWV 1007:
Die großen Harmonien entsprechen den architektonischen Säulen, die Noten dazwischen werden als „barockes Ornament“ leicht gespielt.

Spezielle Hinweise zur technischen Ausführung

In der modernen Cellotechnik bleibt das Gewicht beim Standardstrich konstant auf der Saite, die schwere Spitze und konkave Form des Bogens unterstützen dies. Die Errungenschaft dieser Technik ist die Kontrolle des Tones bis zum letzten Millimeter und auch die Möglichkeit konstanter Lautstärke. Barocke Instrumente können aufgrund ihrer Bauweise nicht mit der Lautstärke der späteren Instrumente mithalten (was aufgrund der Akustik barocker Räume auch nicht notwendig war). Ihre Stärke ist das resonante und obertonreiche Schwingverhalten. Eine leichte Spitze des Barockbogens führt zwangsweise zu einem Abnehmen der Lautstärke. Ein Auf- und ein Abstrich klingen daher prinzipiell unterschiedlich, wodurch auch die strengen Strichregeln des 18. Jahrhunderts in manchen Ländern Sinn ergeben.

Nun streben wir in diesem Band die „Quadratur des Kreises“ an, indem wir das Klangbild des Barockbogens auf das moderne Instrument übertragen versuchen.
Um sich der barocken Spielweise auch mit dem modernen Violoncello und dem schwereren Cellobogen nähern zu können, empfehle ich vorab eine Art „barocken Basisstrich“ zu üben (Videoclip 2). Dabei möge die Bewegung eines Grundschrittes im barocken Tanz als Vorbild dienen. Der Bogen wird zum Tänzer, die Saite zum Tanzboden. Das Armgewicht „taucht“ mit dem Bogen quasi in die Saite ein, wird aber danach – anders als beim modernen Cellospiel – durch die Vor- und Aufwärtsbewegung wieder entlastet (Videoclip 3). Es entsteht ein „Glockenton“ – ein Anschwellen und Abschwellen des Tones. Durch diese Art bekommt das Holz des Instrumentes Zeit in Schwingung zu kommen und Obertöne (Resonanz) aufzubauen. Aufgrund der Entlastung am Ende des Striches können Saite und Instrument weiter schwingen (ähnlich dem Pizzicato), die Resonanz bleibt auch während des ganzen Striches erhalten und kompensiert die durch die Entlastung bedingte zurückgehende Lautstärke.

Weitere Gedanken und Anweisungen zur Umsetzung:

In der 2. Suite, BWV 1008 stoßen wir am Ende des Prelude auf vier Akkorde, die weitere Rätsel aufgeben. Es ist uns kein Hinweis zur Umsetzung aus dieser Zeit erhalten. Vergleiche mit anderen Werken des Hochbarock bieten verschiedene Lösungen an. Folgend möchte ich vier unterschiedliche Ansätze vorschlagen:

Abb. 11: Ausführungsvorschläge für die Kadenz im Prelude der 2. Suite, BWV 1008

Die 5. Suite empfehle ich auf jeden Fall mit Scordadur (a-Saite auf g gestimmt) zu probieren. Ich kann nicht verstehen und sehe keinen Grund, warum das auf dem modernen Cello so selten gemacht wird. Der Klang des Instruments verändert sich durch die verminderte Deckenspannung. Die Quartstimmung d-g tut ihr Übriges, um die düstere Tonart C-Moll zu unterstützen. Spielt man die Griffschrift Anna Magdalenas erhält man zudem aufschlussreiche Informationen über die verwendeten Fingersätze der Zeit. Bleibt man bei einem normal gestimmten Instrument, muss man sich zwangsläufig bei vielen Stellen mit fingertechnischen Notlösungen behelfen.

Es bleibt die Frage nach dem (musikalischen) Sinn, die 6. Suite, BWV 1012, auf einem Violoncello mit vier Saiten zu spielen. Bislang beobachtete ich bei vielen 4-Saiter-Interpretationen, dass man dadurch eher damit beschäftigt war, diese Suite technisch halbwegs bewältigen zu können und die musikalische Aussage meist auf der Strecke blieb. Abgesehen davon sind viele Akkorde auf dem 4-saitigen Instrument nicht realisierbar. Sofern es möglich ist ein 5-saitiges Instrument aufzutreiben, halte ich es für zielführender, diese Suite auf einem solchen Instrument zu spielen. Weiters erhält man dadurch wieder Informationen über die stilistische Deutung: ein wirklich lautes Forte, wie es für das Prelude bei zahlreichen modernen Interpretationen üblich ist, ist auf einem fünfsaitigen – meist kleineren -Instrument (Violoncello piccolo) kaum mehr möglich, ohne bei anderen Saiten anzustreifen. Man wird somit nicht darum herumkommen, sich dem Stück „kammermusikalisch“ zu nähern und die wenigen Dynamikeintragungen anders zu verstehen.
Im Prélude der 6. Suite tauchen die meisten Fragen bezüglich Zuordnung der Bindebögen auf. Es ist praktisch in keiner der überlieferten Quellen möglich, alles genau zu lesen. Entgegen der Ausführungen in vielen späteren Editionen erkennt man beim genauen Quellenstudium jedoch deutlich, dass Abänderungen in sich wiederholenden Passagen ausdrücklich erwünscht waren, worin ich mich bezüglich meiner Ansicht über die Variationsfreudigkeit Bachs bestätigt sehe.

Abb. 12: aus Prélude Suite VI, BWV 1012, T. 48ff

Fingersätze sollen so einfach wie möglich gehalten werden. Sie folgen in erster Linie der musikalischen Idee, und sind keine rein technische Angelegenheit. Leere Saiten und Verwendung der 1. Lage sind absolut erlaubt! Dort, wo es musikalisch Sinn ergibt, ist der Interpret angehalten, lieber quer über die Saiten, als auf einer Saite hoch zu spielen. Es gibt nur wenige Quellen mit Fingersätzen (siehe Hinweis zur 5. Suite). Ich habe versucht, diese Erkenntnisse in meinen Fingersatz-Vorschlägen einzuarbeiten.
Aus oben genannten Gründen habe ich bei der 6. Suite nur Fingersätze für die 5-saitige Variante vorgeschlagen. Empfehlungen für die 4-saitige Variante sind z.B. in August Wenzingers Einrichtung im Bärenreiter-Verlag enthalten.

Die Triller werden in dieser Zeit stets von der oberen Nebennote begonnen.

Es gibt einen Unterschied zwischen z.B. zwei Aufstrichen (V V – wird dazwischen abgesetzt) und einem Bindebogen (durchgezogen).

Es sind nur wenige Quellen überliefert, die sich mit der Ausführung von Akkorden befassen. Allen Cellisten ist der erste Akkord des Konzertes in C-Dur von Joseph Haydn im Ohr. Die Interpretationen von Mstislaw Rostropowitsch und anderen großartigen Cellisten hat die Ausführung für Jahrzehnte geprägt. Zahlreiche moderne Cellistinnen und Cellisten spielen seither Akkorde auch in den Bach-Suiten „gebrochen“:

Naheliegender ist für mich die Orientierung an der arpeggierenden Ausführung auf einer Laute oder auf einem Cembalo. Jean Marie Raoul skizziert die Ausführung eines Akkordes in seiner „Methode de Violoncelle“ von 1797 folgendermaßen (Videoclip 5):

Abb. 13a: Akkord oben in der herkömmlichen gebrochenen Version
Abb. 13b: unten in der Ausführung nach J. M. Raoul, 1797

Die Videosequenzen sollen helfen, die oben ausgeführten Ansätze besser zu verstehen und die „historisch informierte“ Spielweise auf das moderne Instrument übertragen zu können.

Clip 1 Unterschied barocker Bogen – moderner Bogen
Besonderheiten bzw. Folgen für die Technik und das Klangbild

Clip 2 Basisstrich „Glockenton“
Übungsanleitung

Clip 3 Schwerpunkt und Bewegungsrichtung im Barocktanz
Zum besseren Verständnis, wie im Barock Schwerpunkte und Betonungen in einer Bewegung umgesetzt wurden und nun auf das Violoncello übertragen werden können.

Clip 4 Sarabande aus der ersten Suite
Architektur tragender (Harmonie-)Säulen und kleiner Ornamente

Clip 5 Akkorde – Arpeggio
Anleitung zum Akkordspiel

Clip 6 Menuet I aus der ersten Suite im historischen Grundschritt

Dank

Mir zur Seite standen zwei ausgewiesene Fachleute auf dem Gebiet der historisch informierten Aufführungspraxis: Susanne Abed-Navandi, die mit unglaublichem Einsatz eine begleitende Bass-Stimme komponiert und den Generalbass gesetzt hat. Es ging dabei nicht darum, ein kammermusikalisch besetztes Werk zu schaffen. Diese Idee wäre auch nicht neu und wurde bereits im 19. Jahrhundert mehrmals umgesetzt (R. Schumann, u.a.). Es schien mir wichtig, die Suiten um eine Generalbass-Stimme zu erweitern, um das Werk nicht nur linear zu lesen, sondern auch harmonisch bzw. harmonisch-rhythmisch zu verstehen.

Mit Margit Legler konnte ich für die Beschreibung der Tanzsätze und die Demonstration eines Tanzsatzes eine der renommiertesten Persönlichkeiten auf diesem Gebiet gewinnen.
Das Verstehen eines „barocken Bewegungsablaufes“ bei Schwerpunkten gepaart mit der Harmonisierung im Generalbass schien mir die ideale Ergänzung zu sein.
Herzlichen Dank an beide, dass sie dieses Projekt mit so viel Begeisterung mitgetragen und mit all ihren Ideen und Fachwissen bereichert haben!

Ich danke allen meinen Lehrern, v.a. Kurt Neuhauser, Helmut Gugerbauer, Ernst Knava, Max Engel und Nikolaus Harnoncourt, die in mir durch ihre eigene Begeisterung das Interesse an den stilistischen Unterschieden der einzelnen Epochen geweckt haben.

Ein herzlicher Dank gebührt der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv für die unkomplizierte Zusammenarbeit und Erlaubnis, Bachs Handschriften zu scannen und hier abzudrucken.
Der Pariser Bibliothèque Nationale sei allgemein dafür gedankt, dass sie unter dem Etikett „Gallica“ unzählige für unser Arbeitsgebiet wertvolle Quellen gescannt und zur freien Verwendung ins Internet gestellt hat.

So ein Projekt braucht auch technischen Support, entsprechende Aufbereitung und Umsetzung. Vielen Dank an Manfred Rechberger, Bernhard Gritsch, Tobias Reisenauer und Georg Ertl für ihre umfangreichen und geduldigen Hilfestellungen in allen Belangen!


Zu den Tanzsätzen

von Margit Legler

Alle Cellosuiten Bachs bestehen aus einer präludierenden Einleitung, auf welche die vier Kernsätze der barocken Suite folgen (Allemande – Courante – Sarabande – Gigue). Zwischen Sarabande und Gigue werden Modetänze eingefügt (je zweimal Menuett, Bourrée und Gavotte). Wir haben es also mit sieben unterschiedlichen Tänzen zu tun, deren choreographische Eigenheiten hinsichtlich ihrer Tanzschritte und ihrer Zuordnung zur Musik im Folgenden skizziert werden. Originale Choreographien, die in der sogenannten Beauchamp-Feuillet-Notation überliefert sind, bilden die Basis dieser Darstellung.

Die Allemande in den Instrumentalsuiten der Barockzeit ist kein Tanz, sondern ein Charakterstück.
Sie wurde im 17. Jahrhundert in der französischen Lautenmusik als eigener Typ ohne ausgeprägte Tanzstruktur und ohne tänzerische Rhythmik entwickelt (Hauptmeister: Denis Gaultier, gest. 1672). An Stelle der tänzerischen Struktur bestimmt eine gleitende Bewegung mit kontrapunktischen Verdichtungen den musikalischen Duktus. Ruhiges Tempo, 4/4, Sechzehntelauftakt.
Da die getanzte Allemande davon ganz verschieden, bei Musikern aber nicht sehr bekannt ist, wollen wir sie hier kurz charakterisieren, um zu verdeutlichen, dass die instrumentale Allemande kein Tanz ist. Die getanzte Allemande stammt von bürgerlichen deutschen Schreittänzen, die im 16. Jahrhundert als „Dantz“ oder „Tantz“ bekannt waren und mit einem gesprungenen „Nachtantz“ (in ungeradem Takt) eine Einheit bildeten. Um 1550 erschienen in Frankreich und Italien mehrere Druckwerke mit Allemanden (Verleger: Phalèse, Ballard, Susato). Bei Arbeau (1519–1595) wird die von mehreren Paaren getanzte Allemanda hoffähig. Solche Tänze finden sich auch in der englischen Virginalmusik, und in Deutschland beispielsweise bei Schein und Scheidt. Im 17. Jahrhundert stand die Allemande meist im Alla breve-Takt, Vortragsbezeichnungen lassen auf einen lebhaften Charakter und flüssiges Tempo schließen:

Abb. 14: F. Couperin, Les Goûts-réünis / ou / NOUVEAU CONCERTS, […] Paris, Chez l´Auteur […] 1724, S. 2

Eine einzige Choreographie ist überliefert (Feuillet, 1702). Als „Deutsch“ wird dabei das in unterschiedlichen Positionen beschriebene Händehalten der Partner genannt, die Musik ist flottes Alla breve:

Abb. 15: „L air de l´Allemande“, aus: L´Allemande / DANSE NOUVELLE / DE LA COMPOSITION DE MONS. PECOUR / […]
mis en jour / par MR. FEUILLET / […] A PARIS / 1702

Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurde die Allemande zu einem Modetanz in Frankreich. Es wurden ihr eigene Publikationen gewidmet (z. B. „Principes d´Allemandes par Mr. Dubois De l´Opera“, Paris 1769). In einem „Almanach Dansant ou Positions et Attitudes de l´Allemande“ (Paris, ebenfalls 1769) heißt es, die Allemande sei „des plus à la mode en cette Ville“. Neben genauen Illustrationen, welche die Verschlingungen der Arme zeigen, gibt es darin auch Musikbeispiele, etwa:

Abb: 16 und 17: Zwei Allemanden („La Plaisante“ und „Les Plaisirs Danois“) aus Almanach Dansant / ou / Positions et Attitudes de / l´Allemande […] Par GUILLAUME Maitre de Danse / Pour L´Année 1769 […] A PARIS, S. 7 und S. 2 (Ausschnitte)

Damit haben die Bach´schen Allemanden nun wirklich gar nichts gemeinsam.

Die Courante ist der zweite Kerntanz einer Instrumentalsuite. Es gibt unter diesem Namen zwei völlig verschiedene Tänze – die französische Courante und die italienische Corrente.

Französische Courante: Ursprünglich schneller (Name!) Nachkomme der Branle mit vielen Sprüngen (so bei Arbeau in dessen Orchésographie, 1589). Im 17. Jahrhundert gelangte sie an den französischen Hof und war der Lieblingstanz von Ludwig XIV., bevor sie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allmählich durch das Menuet ersetzt wurde. Als Balltanz war sie nicht mehr schnell und wurde von einem Paar mit gleitenden Schritten und einigen Sprüngen getanzt. Nun ist sie ein Dreiertakt (notiert als 3/2 oder 6/4), meist auftaktig, in schwerem, feierlichem Tempo.
Formal ist besonders die wechselnde Taktbetonung zwischen 3/2 und 6/4 charakteristisch und für den ausführenden Musiker von großer Wichtigkeit. Nicht immer sind die Wechsel eindeutig erkennbar. Bei textierter Musik helfen die sinnvollen Textbetonungen, wie man aus der folgenden Courante ersehen kann, die L´Affilard mitteilt (die fettgedruckten, unterstrichenen Silben sind betont):

Si nôtre cœur doit s’enflammer,
S’il faut qu’il aime,
Que doit il aimer?
C’est le seul bien suprême
Qui le doit charmer:

Abb: 18: PRINCIPES TRES-FACILES / POUR BIEN APPRENDRE / LA MUSIQUE […]
Par le Sr L´AFFILARD, Ordinaire de la Musique du Roy. / Nouvelle Edition, à l´usage des Dames Religieuses. […] 1717, S. 82

In der Vertonung dieses Textes markieren die Pfeile die gliedernden Akzente und verdeutlichen so den Wechsel von 3/2- und 6/4-Takten. Diese Betonungswechsel finden aber in den Tanzschritten keine Entsprechung.
In den Tanztraktaten wird die Courante allgemein als schwieriger Tanz bezeichnet, dessen Beherrschung die beste Grundlage für das Erlernen des Tanzens sei. Der Courante wird ein eigener Schritt zugeordnet, der „pas de Courante“: Er besteht aus drei Elementen (élevé – glissée – demi-jeté), die den drei Taktteilen entsprechen und in zwei Formen auftreten
(Pas court – Pas long de la Courante, in der Abbildung im 1. und 2. Takt ).

Abb: 19: Raoul-Auger Feuillet, RECUEIL / DE DANCES, / COMPOSÉES / Par M. PECOUR […]
Paris, 1700, S. 43 (Ausschnitt)

In den französischen Quellen sind nur 4 Choreographien von Couranten überliefert, da diese ihre geschätzte Position als eröffnender Balltanz in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts einbüßte. An ihre Stelle traten das Menuett und Kontratänze, „worüber sich mancher miserabler Täntzer und Tantzmeister erfreuet“, wie Taubert noch 1717 klagte (S. 572).
Johann Mattheson, „Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 231:
„Wenn die Courante getantzt werden soll … [hat] kein andrer Tact, als der Dreihalbe 3/2 … dabey Statt. … Die Leidenschafft oder Gemüths=Bewegung, welche in einer Courante vorgetragen werden soll, ist die süße Hoffnung. Denn es findet sich was hertzhafftes, was verlangendes und auch was erfreuliches in dieser Melodie: lauter Stücke, daraus die Hoffnung zusammengefüget wird.“
Alle überlieferten Choreographien stehen im 3/2-Takt.

Italienische Courante (Corrente): Sie ist völlig anders: Schnell, Laufwerk, gleichmäßig fortlaufende Bewegung, 3/4-Takt, 16tel-Auftakt. Einerseits ist dieser Typus natürlich in der italienischen Musik zu finden (z. B. Corelli Op. 5), aber auch bei zahlreichen französischen Komponisten (Boismortier, Chedeville, …). Zudem sind die weitaus meisten der mit „Courante“ überschriebenen Sätze in den Instrumentalsuiten etwa Bachs in Wirklichkeit Correnten im schnellen 3/4-Takt.
In den choreographischen Quellen finden sich keine Correnten; lediglich Lambranzi widmet diesem Tanztypus eine Seite, wobei er vielleicht sogar den korrekten Namen verwendet („Corente“: fehlt ein r oder ein u?). Freilich kann man aus seinen pauschalen Angaben keine konkrete Choreographie entwickeln.
Ein recht seltenes, aber überaus gelungenes Musikbeispiel findet sich in Couperins 4. Concert Royale (1714/15), in dem auf eine »Courante Françoise« (3. Satz) unmittelbar eine »Courante a L’italiene« (4. Satz) folgt.
In Bachs Cello-Suiten ist nur die Courante der 5. Suite eine französische im 3/2-Takt; alle anderen sind italienische Correnten im 3/4-Takt. Bei der 5. Courante ist es sinnvoll, aber auch schwierig, die für den Tanz typischen Wechsel zwischen 3/2 und 6/4 zu finden.

Die Sarabande (Zarabanda) stammt aus Mittelamerika und kam über Spanien nach Europa, wo der teilweise obszöne Paartanz 1583 bei Peitschen- und Galeerenstrafe verboten wurde. Eine Generation später ging die Sarabande jedoch in das Tanzrepertoire des spanischen (1618) und des französischen Hofes (1625) ein. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist sie dann ein langsamer Schreittanz im Dreiertakt mit der charakteristischen Betonung der zweiten Zählzeit, ohne Auftakt. Händels Sarabanden spiegeln den Tanzgestus am reinsten (z. B. „Lascia ch´io pianga“ aus Rinaldo, 1711).
Es gibt einige Sonderformen, die sich sowohl musikalisch als auch choreographisch unterscheiden:

Sarabande légère/gay: Dieser schnellere Typus war vor allem im 17. Jahrhundert verbreitet. Besonders beliebt schien er in England gewesen zu sein (M. Locke, H. Purcell u. a.). Im Lexikon von Antoine Furetière – „Dictionnaire universel“, Den Haag und Rotterdam 1690, lesen wir: „Elle a un mouvement gay & amoureux“. Hier wird auch das Tempo angegeben, und zwar mit einer Sekunde pro Takt, also Ganztakt = 60.

Abb. 20: Pieces de Clavessin / Composées / Par Gaspard Le Roux […], Paris 1705, S. 13

Sarabande espagnole: Darunter versteht man eine fließende Art der Sarabande, gleich einem langsamen Menuett. Der charakteristische zweite Schlag fehlt fast völlig, es gibt gelegentlich Hemiolen, und immer wieder findet man auch eine auftaktige Form. Die Melodie kann auch fließende durchgehende Bewegungen beinhalten. L’Affilard schreibt diese Form im 6/4-Takt und spricht von einem Tempo Viertel = 133. Ein schönes Beispiel mit überlieferter Choreographie stammt aus Lullys Musik zu Molières Le Bourgois Gentilhomme:

Abb. 21: Jean-Baptiste Lully, Le Bourgeois gentilhomme (LWV 43/27), handschriftliche Partitur,
kopiert von André Danican Philidor, n.d. (ca.1690), daraus: „Sarabande espagnole” (Ausschnitt)

Sarabande grave: Diese besonders kunstvolle Version wurde gerne als anspruchsvoller Bühnentanz verwendet („Danse haute“). Schon die überaus anspruchsvollen Tanzschritte erlauben kein flüssiges Tempo, wie auch ihre „ernste Affektlage“, die Mattheson so charakterisiert:
„So hat dieselbe keine andre Leidenschafft auszudrucken, als die Ehrsucht; Doch sind oberwehnte Arten [zum Singen, Spielen und Tanzen] darin unterschieden, daß die Tantz-Sarabande in engerer und doch dabey viel hochtrabenderer Verfassung befindet, als die übrigen; daß sie keine lauffende Noten zuläst, weil die Grandezza solche verabscheuet, und ihre Ernsthafftigkeit behauptet.“ (Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 230)
Diese Spielart ist wohl diejenige, die in die Instrumentalsuite übernommen wurde.

Der vierte Tanz der barocken Instrumentalsuite ist die Gigue. Die mittelalterliche italienische Giga und französische Gigue waren Streichinstrumente („Geige“). Andererseits wird die Wortherkunft auch vom altfranzösischen „giguer“ (herumtollen) abgeleitet. Im England der elisabethanischen Epoche gab es eine Form der improvisierten Posse, die Jigg genannt wurde. Sie enthielt gesungene und getanzte Jigs.

Französische Gigue: Der Lautenist Jacques Gaultier, der von 1619 bis 1648 am englischen Hof musizierte, brachte die Gigue Mitte des 17. Jahrhunderts von England nach Frankreich. Charakteristisch für die französische Gigue sind punktierte Rhythmen im 6/4- oder 6/8-Takt
(Jam – tatam) und der sogenannte Sautillant-Auftakt (Achtel + Viertel bzw. Sechzehntel + Achtel).
In der Notation von Pierre Beauchamp und Raoul-Auger Feuillet sind 14 französische Giguen überliefert. Sechs Tänze werden dabei von Tänzerinnen allein ausgeführt. Vermutlich wurde dieser Tanztyp gerne für Damensolos genommen. In dieser Form war die Gigue ein Theatertanz, kein Gesellschaftstanz. Die französischen Quellen sprechen bei der 3/8- und der 6/4-Gigue von einem Tempo von 116–120 für die punktierte Viertel bzw. Halbe. L’Affilard gibt für sein Pendel bei der 6/8-Gigue ein langsameres Tempo von 100 für die punktierte Viertel vor.

Italienische Gigue/Giga: 6/8-Takt, nicht punktierte, gleichmäßige Achtel als Grundbewegung, einfacher Achtelauftakt. „Violin-Gigue“, oft bei Händel und Bach. Nach Quantz wird sie „mit einem kurzen und leichten Bogenstriche gespielet“ (Versuch einer Anleitung die Flute traversiere zu spielen, Berlin 1752, S. 271). Quantz geht von einem Tempo von punktierten Vierteln 160 aus, also wesentlich schneller als die französische Gigue. Natürlich ist eine durchgehende Achtelbewegung technisch leichter zu bewältigen als der punktierte Rhythmus.

Das Menuett ist geradezu ein Emblem für diese Epoche geworden: Noch in viel späterer Zeit bemühte man es, wenn man „Barock“ oder „Rokoko“ evozieren wollte. Der Name bezieht sich auf die „kleinen Schritte“. Der aus dem Poitou stammende graziöse Reihentanz wurde in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem improvisierten Gesellschaftstanz, der zwar nach sehr strengen Regeln verlief, es den ausführenden Tänzern aber gestattete, die Figuren nach eigenem Geschmack zu kombinieren. Auch die Schritte waren bis zu einem gewissen Grad dem Können der Tänzer überlassen. Zwar gab es den „pas de Menuet“ gewissermaßen als Standardschritt für diesen Tanz, doch waren auch andere Tanzschritte möglich, vorausgesetzt man verstieß nicht gegen den guten Geschmack und die beiden Partner tanzten gut zusammen. Der „pas de Menuet“ benötigt sechs Zählzeiten und prägt so die Musik, die zweitaktig organisiert ist. Die typischen Bodenwegformationen (Z-Figur, Handtour etc.) konnten während des Tanzens improvisierend angewendet werden. Große Aufmerksamkeit gebührte der Reverenz an Beginn und Ende jedes Tanzes.
Zu unterscheiden sind verschiedene Typen, die deutlich andere Tempi haben. Die oft vertretene Meinung, das ursprünglich schnelle französische Menuett (ganzer Takt etwa M.M.=80) sei im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich langsamer geworden und außerdem der Ahnherr von Ländler und Walzer gewesen, ist unrichtig. Es gab seit je ein schnelles Tanzmenuett und ein langsameres, das „galante“ (und ausführlich verzierte) Menuett, das im instrumentalen Bereich vorkommt. Im Musiktheater wurde es häufig in zeremoniellem szenischem Zusammenhang eingesetzt und nicht getanzt (z. B. in Händel-Opern). Walzer und Ländler sind keineswegs Nachfahren des Menuetts, sondern des Springtanzes, des zweiten Teiles des Tanzpaares, und entstammen dem bürgerlichen bzw. bäuerlichen Bereich, während das Menuett höfisch ist.

Die Bourrée stammt aus der Auvergne und wurde bereits 1555 am französischen Hof eingeführt. Auf dem Lande wurde die Bourrée von einem kleinen Dudelsack, der Cabrette, begleitet. Sie stand – regional unterschiedlich – im Zweier- oder im Dreiertakt. Eine „bourrée alla breve“ wurde im Berry, im Bourbonnais, im Languedoc und in der Basse Auvergne getanzt. Meist als zweiteiliger Paartanz, erzählt sie die folgende Geschichte: Die Frau flieht vor ihrem Verehrer, der aus Zorn darüber mit dem Fuß aufstampft; am Schluss des Tanzes erfolgt die Versöhnung. In der Oper und in der klassischen Suite ist die Bourrée stets geradtaktig und ähnelt dem Rigaudon und der Gavotte, hat aber einen einfachen Viertelauftakt.
Ihr Basisschritt, der „Pas de bourrée“, hat ein rhythmisches Pattern „kurz – kurz – lang“. Er spiegelt sich musikalisch in der häufig vorkommenden Rhythmusgruppe Achtel – Achtel – Viertel, die meist auftaktig, gelegentlich auch volltaktig vorkommt:

Abb. 22: links auftaktig – rechts volltaktig

Ebenfalls oft findet man die Synkopation Viertel – Halbe – Viertel. Das erhaltene Corpus von 13 Choreographien zwischen 1700 und 1728 zeigt, dass die älteren Tänze viel mehr Pas de bourrée enthalten. Tanz- und musikgeschichtlich waren Bourrées und Rigaudons ursprünglich viel unterschiedlicher, trotz der grundsätzlichen Ähnlichkeiten. Allerdings war ihre Blütezeit nicht gleichzeitig: um 1700 scheint der Rigaudon die Bourrée allmählich zu ersetzen. Parallel zu diesem Prozess wanderte das wichtigste Schrittmaterial der Bourrée auch in andere Tänze. Ein gewisser Identitätsverlust ist folglich zu beobachten.

Die Gavotte war ein oft verwendeter Bühnentanz (36 von Lully, 109 von Rameau erhalten), der sich auch als Balltanz großer Beliebtheit erfreute. Originale Choreographien aus der Zeit zwischen 1704 und 1722 umfassen 6 Balltänze und 4 Entrées für die Bühne. Die Gavotte der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts steht im Alla breve-Takt und hat einen Doppelauftakt sowie zweitaktige Phrasierung:

Abb: 23: Jean-Baptiste Lully, Atys (LWV 53), Erstausgabe, Christophe Ballard, Paris 1689, S. 24
„Air pour la Suite de Flore” (Ausschnitt)

Die Tanzschritte beginnen in den meisten Choreographien erst nach dem Doppelauftakt, der deshalb keinen Anfangsakzent bekommen darf – die Eins im ersten Ganztakt muss akustisch zweifelsfrei feststehen. Den schrittlosen Auftakt kann man gut in der folgenden Notation Feuillets erkennen, in der eine Pause vor dem 1. Taktstrich steht:

Abb. 24: Raoul-Auger Feuillet, CHOREGRAPHIE / OU / L´ART DE DÉCRIRE / LA DANCE […] Paris, 1700, Ausschnitt aus S. 91

Die Standart-Schrittfolge ist der „pas de Gavotte“. Er benötigt zwei Takte: der Contretems im 1. Takt führt im 2. Takt zu einem größeren Sprung (oft: assemblé). Deshalb hat der zweite Takt einen stärkeren Akzent als der erste (oft auch musikalisch).
Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 225:

Ihr Affect ist eine rechte jauchzende Freude… Das hüppfende Wesen ist ein rechtes Eigenthum dieser Gavotten; keineswegs das lauffende. Die welschen Setzer brauchen eine Art Gavotten für ihre Geigen … welche offt mit ihren Ausschweifungen gantze Bögen erfüllen, und nichts weniger, aber wol was anders sind, als sie seyn sollten… Fürs Clavier setzt man auch gewisse Gavotten, die große Freiheiten gebrauchen; sie treiben es aber doch nicht so arg wie die gefiedelten.

Zur Harmonisierung der Suiten

von Susanne Abed-Navandi

Die vorliegende Continuostimme richtet sich an Lehrerinnen und Schülerinnen als Hilfestellung für den Prozess des Einstudierens der Suiten. Ziel ist es, die Perspektive einer Generalbassspielerin zu vermitteln, das Bewusstsein vermehrt auf die harmonische Struktur der Stücke zu lenken und neue Zugänge im Verstehen dieser Musik zu ermöglichen. Die Aussetzung der Generalbassstimme ist spieltechnisch einfach gehalten und verzichtet aus Gründen der Praktikabilität gelegentlich auf konsequente Vierstimmigkeit und nach den Regeln der klassischen Harmonielehre „richtigen“ Auflösungen. Akkorde sind meist nur notiert, wenn sich die Harmonie ändert.

Diese erfundene Continuostimme ist eine von vielen Deutungsmöglichkeiten im Umgang mit Bachs Musik, ein Zugangsweg im Verstehen seiner Musik. Inspirationsquelle waren einerseits Generalbassquellen aus dem zeitlichen und örtlichen Umfeld Johann Sebastian Bachs (Mattheson, Telemann, Niedt), andererseits die persönliche Erfahrung der Autorin als Continuospielerin.

Der/die Ausführende ist eingeladen, diese Stimme nach eigener Erfahrung und Expertise entsprechend zu verändern, z.B. die Akkordlagen tiefer oder höher zu wählen, zu wechseln, rhythmische und freie Arpeggien zu ergänzen, Dissonanzen hinzuzufügen, Stimmführungen zu ändern und eigene Rhythmisierungen zu erfinden. Als Inspirationsquelle, wie Bach selbst mit Akkorden spielerisch umgegangen ist, empfehle ich das Studium seiner kleinen Präludien sowie der ausgeschriebenen Begleitstimmen in den Sonaten für Flöte, Violine oder Viola da Gamba und obligates Cembalo.

Ich wünsche viel Freude und Ideenreichtum bei der weiteren Ausgestaltung der Generalbassstimme!

Die Autoren

Jörg Zwicker studierte Violoncello bei Hildgund Posch an der Musikhochschule Graz sowie Viola da gamba bei José Vazquez an der Musikhochschule Wien. Nach dem Konzertfachdiplom führten ihn Spezialstudien für Barockcello und Aufführungspraxis an die Schola Cantorum Basiliensis (Christophe Coin) sowie das Koninklijk Konservatorium Den Haag (Jaap ter Linden). Als Privatschüler Nikolaus Harnoncourts gründete er 1985 sein erstes Ensemble für Alte Musik, die Musica Antiqua Graz, aus welcher 1992 das international renommierte Barockorchester Capella Leopoldina hervorging. Als Cellist und Dirigent konzertierte er mit verschiedenen Ensembles in ganz Europa, den USA, der ehem. Sowjetunion und Indien. Rund 50 CD – Einspielungen dokumentieren seine Tätigkeiten. Seit 1995 unterrichtet Jörg Zwicker an der Kunstuniversität Graz (Violoncello, Barockcello, Kammermusik, Didaktik, Ensembleleitung) und an der Musik und Kunst Privatuniversität Wien (Barockcello, Barockorchester). Er gibt Meisterkurse in ganz Europa.
Seine Erfahrungen aus über 30 Jahren Bühne, Extremsport und fachspezifischen Ausbildungen gibt er nun in Seminaren weiter und trainiert Leistungssportler und Profimusiker in den Bereichen Peak Performance, Konzentration und Lampenfieber.

Susanne Abed-Navandi ist Cembalistin und Auftrittstrainerin. Thema ihrer musikwissenschaftlichen Dissertation war eine barocke Akademie von Frauen, die am Wiener Hof einmalig aufgeführt wurde und ihr Interesse für Konzertformate geweckt hat. 2017 erfand sie das Kommunikationsformat Method of Vienna als neue Plattform für Wissenschaft und Kunst.
Ihre Aktivitäten als Solistin und Kammermusikerin der Ensembles Capella Leopoldina, Private musicke und Phoenix Baroque Austria sind in zahlreichen Rundfunk- und CD-Aufnahmen dokumentiert und wurden mehrfach ausgezeichnet. Mit dem Eigenlabel Klangrede produzierte sie unter anderem die CD Best of Leopold und die organoleptische Klangreise L´art de toucher – eine CD mit ausgewählten Préludes für Cembalo und Pralinen eines Wiener Schokolatiers. In dem Soloprogramm Voglio il core (2013) widmet sie sich venezianischer Musik und Gedichten des Cinquecento aus dem Umfeld der Dichterin und Kurtisane Veronica Franco. Die Musik Johann Sebastian Bachs steht im Mittelpunkt weiterer Projekte, etwa der Uraufführung des Gold.Berg.Werks von Karlheinz Essl (2010), einer Interpretation der Goldberg-Variationen für Cembalo und Live-Elektronik, die Mitwirkung beim Projekt BACH XXI der Domkantorei Graz (1998-2018), in dessen Rahmen alle geistlichen Kantaten Bachs zur Aufführung gelangten sowie eine DVD mit Bachs kleinen Präludien, Inventionen und Sinfonien (2008).

Die Wienerin Margit Legler spezialisierte sich nach ihrer Karriere als Tänzerin im Ballett der Wiener Staatsoper auf historische Aufführungspraxis von Tanz, Gesang und Schauspielkunst. Aufführungen von Historischem Tanz mit dem eigenen Ensemble LES PLAISIRS DE LA DANSE in Schloss Kroměříž, bei den Internationalen Barocktagen Melk und den Händelfestspielen Göttingen, sowie im Theatermuseum Wien und den Resonanzen im Wiener Konzerthaus. Operninszenierungen mit historischen Schauspieltechniken: Zauberflöte (Mozart; Tokyo), Il parnaso confuso (Gluck; Budapest Salzburg, Schönbrunn und Schloss Hof), Il trionfo d´Amore (Gassmann; Schlosstheater Ballenstedt), Dido and Aeneas (Purcell; Weimar, Händel-Festspiele Halle), INO (Telemann;, Budapest), Il Giuoco del Quadriglio (Caldara; Mozarteum Salzburg), La Corona (Gluck; Mozarteum Salzburg), Lucio Cornelio Silla (Händel; Händel-Festspiele Göttingen / Schlosstheater Ludwigsburg). Bach BWV 66a (Barocktage Köthen), Polifemo (Bononcini; Musikfestspiele Potsdam – Sanssouci und Markgräfliches Opernhaus Bayreuth). Margit Legler ist vielgefragte Dozentin bei Meisterkursen in ganz Europa. Sie unterrichtet Historischen Tanz und Historisches Schauspiel an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper, am Mozarteum Salzburg und ist seit 2016 Professorin an der MUK Privatuniversität Wien.